Ich bin Johannes und kenne Paruresis aus eigener Erfahrung. Ich betreibe das Forum auf paruresis.de und unterstütze andere Betroffene mit meinem Selbsthilfeprogramm.
Wenn du auf diese Seite kommst, hast du höchstwahrscheinlich folgende Situation schon erlebt: Du bist auf einer öffentlichen Toilette und möchtest pinkeln, aber es läuft einfach nicht.
Ich habe mich selbst viele Male in dieser Situation befunden. In diesem Artikel möchte ich dir Orientierung geben: Warum kommt nichts, auch wenn du noch so stark drückst? Wieso passiert dir das auf öffentlichen Toiletten? Und wann solltest du Hilfe suchen?
Bevor wir uns die Abläufe genauer anschauen, zwei Dinge vorab: Das Problem zählt zu den sozialen Angststörungen und ist unter dem Namen Paruresis bekannt. Und es ist ziemlich weit verbreitet. Allein in Deutschland sind schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen davon betroffen.
Damit Urin aus der Blase ablaufen kann, müssen sich sowohl die äußeren als auch die inneren Schließmuskeln der Blase entspannen. Wenn du auf der Toilette bist und nichts kommt, dann sind es die zusammengezogenen inneren Schließmuskeln, die den Weg versperren.
Ich gehe im gesamten Artikel davon aus, dass du in sicheren und vertrauten Umgebungen keine Probleme beim Wasserlassen hast. Wenn du auch alleine und zuhause Schwierigkeiten beim Urinieren hast, deutet das auf andere Ursachen hin. In diesem Fall solltest du dich von einem Urologen untersuchen lassen.
Das Knifflige dabei ist, dass du diese inneren Schließmuskeln nicht bewusst steuern kannst. Sie werden vom sogenannten vegetativen Nervensystem kontrolliert, das beispielsweise auch unsere Herz- und Atemfrequenz reguliert.
Normalerweise sorgt das vegetative Nervensystem automatisch dafür, dass sich die inneren Schließmuskeln entspannen, wenn du pinkeln möchtest. Dieser Automatismus funktioniert jedoch nur, wenn du selbst mental entspannt bist.
Bist du gestresst oder ängstlich, bleiben die inneren Schließmuskeln zusammengezogen. Dann kannst du nicht mehr pinkeln, ganz egal, wie sehr du auch drückst.
Vielleicht hast du schon einmal vom Kampf-oder-Flucht-Modus gehört? Zusammengezogene Schließmuskeln sind ein Merkmal für diesen Modus. Du kannst also nicht pinkeln, weil dein Körper als Reaktion auf Stress oder Ängste den Kampf-oder-Flucht-Modus aktiviert hat.
Es gibt keine allgemeingültige Erklärung dafür, wie es zur Anspannung auf der Toilette kommt. Ich würde es vereinfacht so erklären: Wir alle brauchen ganz evolutionär einen sicheren Bereich zum Pinkeln und wir sind angespannt, wenn dieser Bereich durch andere Personen verletzt wird. Dabei kann es sich um Personen handeln, die sich bereits im Toilettenraum befinden oder vor der Toilette warten, aber auch um Personen, die theoretisch noch hereinkommen könnten. Unsere Privatsphäre wird dann konkret dadurch verletzt, dass wir uns in einem intimen Moment der Beobachtung und Wertung durch andere ausgesetzt fühlen. Wir bilden uns dann beispielsweise ein, dass andere sich fragen: „Wie lange braucht der denn?” oder „Was macht die denn für Geräusche?”.
Unser sicherer Bereich ist dabei nicht nur durch den Abstand definiert, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren, wie beispielsweise die Lautstärke auf der Toilette. Wenn im Hintergrund Musik läuft und ein lauter Händetrockner pustet, fühlen wir uns weniger beobachtet als wenn es mucksmäuschenstill ist.
Analog dazu können verschiedene Personen einen unterschiedlich starken Einfluss auf unseren sicheren Bereich haben. Die Wertung durch einen Unbekannten am Flughafen ist für uns weniger relevant als die des Vorgesetzten am Urinal nebenan.
Falls du dir nicht vorstellen kannst, dass jeder ein Bedürfnis nach einem sicheren Bereich hat, denke doch einmal an die typische Belegung an einer langen Reihe von Urinalen. Der erste geht ganz nach außen, der nächste auf die andere Seite und der dritte in die Mitte 🙂
Tatsächlich wurde es schon wissenschaftlich untersucht, welchen Effekt die Nähe anderer Personen beim Pinkeln hat: Je geringer der Abstand zu einer anderen Person war, desto länger dauerte es, bis die Teilnehmer der Studie pinkeln konnten.
Wie ist es dir ergangen, nachdem du erstmals nicht pinkeln konntest?
Im besten Fall hast du dir gedacht: „Ok, ich konnte jetzt nicht pinkeln, aber wen interessiert's?” und hast die Situation gleich wieder vergessen.
Aber meist ist das Leben nicht ganz so einfach. Wahrscheinlicher ist, dass du dich geschämt hast und dich vielleicht als eigenartig empfunden hast. Beim nächsten Toilettengang hast du dann vielleicht gedacht: „Hoffentlich passiert mir das nicht noch einmal!” und warst erst recht gestresst.
Das ist die typische Entwicklung, die dann zur Angststörung Paruresis führt. Es gibt ein erstes negatives Erlebnis. Dann befürchten wir, dass es sich wiederholt. Dann passiert es tatsächlich noch einmal und unsere Ängste werden bestätigt. Wir verknüpfen öffentliche Toiletten so immer mehr mit einer Bedrohung, auf die unser Körper zwangsläufig mit dem Kampf-oder-Flucht-Modus reagiert.
Wer in der oben beschriebenen Dauerschleife gefangen ist, fängt automatisch an, schwierige Toiletten zu meiden.
Auch wenn du dir damit kurzfristig Toilettenstress ersparst, so erscheinen dir Toiletten langfristig umso bedrohlicher. Vor allem aber verpasst du die Dinge, die du eigentlich gerne machen würdest.
Es ist ok, nicht auf allen Toiletten pinkeln zu können.
Mit Blick auf das Vermeidungsverhalten ist es aber wichtig, sich ehrlich zu machen. Leiden deine Beziehungen zu wichtigen Menschen in deinem Leben? Beeinflusst der Toilettenstress deine beruflichen Entscheidungen?
Wenn du zu dem Schluss kommst, dass dich die Ängste im Zusammenhang mit öffentlichen Toiletten erheblich einschränken, dann möchte ich dir Mut machen: Du kannst etwas an deiner Situation ändern! Es gibt erprobte Wege, mit denen du deine Ängste überwinden kannst.
Ich habe einen weiteren Artikel geschrieben, der den Weg zur Besserung beschreibt: Wie kann ich die Paruresis überwinden?
Mein Selbsthilfeprogramm bietet dir einen einfachen Einstieg in die Auseinandersetzung mit deiner Paruresis. Die Inhalte basieren auf Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie und wurden gemeinsam mit Experten der Freien Universität Berlin entwickelt.
Mehr erfahrenDie Inhalte auf dieser Seite ersetzen nicht die persönliche Beratung, Untersuchung, Diagnose und Therapie durch einen Therapeuten oder Arzt.
Wenn du dringend Hilfe benötigst, wende dich bitte an die Telefonseelsorge: telefonseelsorge.de bzw. 0800/111 0 111.