Skulptur: Männer, die gemeinsam urinieren

Geschrieben von Sören Lehmann

Sören ist studierter Betriebswirtschaftler, Journalist und leidenschaftlicher Triathlet. Von den Einschränkungen durch die Paruresis hatte er irgendwann genug. Jetzt arbeitet er daran, sie zu überwinden.

Das erste Mal gemeinsam üben

Mittwoch, 16:30 Uhr. Eine öffentliche Toilette in Berlin. Ich bin motiviert. Und angefixt. Angefixt davon, zum Schluss nochmal „All In“ zu gehen. Und mache es einfach. Ahnungslos, ob jemand an den Urinalen steht, gehe ich durch den Vorraum, dann durch die Drehtür zu den Urinalen. Links steht jemand, ich gehe rechts ran. Kurze Stille, dann läuft es einfach…Aber wo – bei ihm oder bei mir?

Meine Gedanken davor

Sechs Tage zuvor telefoniere ich mit Johannes. Unter anderem auch deswegen, weil wir uns zum ersten Mal zum gemeinsamen Üben treffen wollen. Das entscheidende Puzzleteil, um Paruresis zu überwinden - die Konfrontation mit der Angst. Zunächst bin ich motiviert. Freue mich fast auf unser Treffen. Doch je näher der Tag X kommt, desto mehr tanzen negative Gedankenschnipsel unterschwellig in meinem Kopf herum. Es sind die Zweifel, teilweise Worst-Case Szenarien, aber auch dieser „Troll“ da oben, die mir ein leichtes Unbehagen suggerieren. Doch ich habe eine Mission. Und bin entschlossen. Kneifen gibt’s jetzt nicht mehr. Also pole ich mich immer mal wieder gedanklich um. „Nein Sören, das wird dir helfen“, „Was könnte auch Positives dabei rausspringen?“, solch ein Mindset ist wichtig, sprich auch mal das Positive vorzukehren. Nicht immer in möglichen Worst-Case Szenarien a la „Es wird nicht laufen“ denken.

Dann kommt der Tag. Das Wetter ist sehr bescheiden. Starkregen am Morgen, eine voller Zug nach Berlin und natürlich fährt ein Kleintransporter an einer Kreuzung so nah an mir vorbei, dass er die zwischen uns liegende Pfütze fliegen lernen und meine Schuhe nass zurück lässt. All das könnte symbolisch für meine Unsicherheit und Zeichen hinsichtlich der kommenden Konfrontation deuten – aber na klar: ich bleibe standhaft. Ich klingle bei Johannes…

Meine Gedanken währenddessen

Wie läuft sowas nun ab?“, fragst Du dich jetzt natürlich. Zunächst treffen wir uns mit Thomas, einem weiteren Paruretiker, vor der Mensa der TU Berlin. Wir quatschen kurz über Alltägliches. Dann frage ich Johannes, wie es gleich ablaufen wird. Wir überlegen kurz, mit welchem Übungsszenario wir beginnen. Wir wollen uns bzw. mich ja nicht gleich überfordern. Stichwort graduelle Exposition. Ich bin mir nicht ganz sicher, wo ich gerade stehe. Geübt, geschweige denn mit anderen zusammen am Urinal gepinkelt, das habe ich noch nie gemacht. Wir einigen uns darauf, gemeinsam eine Urinalreihe zu belegen. Jeder steht vom anderen zwei Urinale entfernt.

Anfangs bin ich relativ entspannt. Doch dann klappt’s erst bei Johannes und kurz danach bei Thomas. Ohne dass ich es will, setzt unbewusst wieder dieser „Ich muss jetzt pinkeln oder"-Reflex ein. Nichts geht mehr. Ein anderer kommt herein und stellt sich auf die andere Seite. Die Situation scheint natürlich skurril. Drei Typen, keiner pinkelt. Stille. Dann läuft’s bei dem anderen. Johannes und Thomas gehen schon mal raus. Der andere dann irgendwann auch.

Ich bleibe stehen und versuche mich erneut zu entspannten. Es vergehen 20-30 Sekunden. Noch immer kommt keiner herein. Ich spüre, dass es gleich kommt. Und tatsächlich, läuft es! „Nice“, denke ich mir, immerhin könnte jeden Moment jemand herein kommen. Im Eifer des Gefechts lasse ich es laufen. Das ist natürlich suboptimal wenn man weitere Szenarien durchspielen will. Also raus. Kurze Manöverbesprechung mit den beiden und erstmal mit neuen Getränken in der Mensa eindecken :D Ich bin leicht leicht happy. Es hat geklappt.

Insgesamt sind es heute 4 Übungen für mich. Ohne auf alle 4 Übungsanläufe einzugehen, will ich dennoch vom letzten Szenario erzählen. Wie eingangs beschrieben gehe ich einfach in den Raum mit den Urinalen. Tatsächlich steht da schon jemand. Dann Stille. Plötzlich ein Geräusch. Aber kein Pinkeln. Er ist es, der jetzt aufgibt (?) und rausgeht. Irgendwie gibt mir die Situation einen schmeichelhaften Input. Und auf einmal läuft es auch jetzt. Ich musste schon ziemlich dringend und hatte wie gesagt ein relativ gutes Gefühl. Einfach weil ich es auch nochmal wissen wollte. Im Vorraum angekommen, läuft der Typ von eben nochmal an uns vorbei. Er war direkt danach nochmal Richtung Kabinen gegangen und irgendwie sichtlich nervös. Hatten wir hier zufällig einen Gleichgesinnten getroffen?

Für’s erste belassen wir es so für heute…

Meine Gedanken danach

Zeit zum Nachdenken, habe ich auf der zweistündigen Zugfahrt zurück nach Hause genug. Irgendwie bin ich entspannt. Na klar, hatte es immerhin in 3 von 4 Übungszenarien mit dem „laufen lassen“ geklappt. Vielleicht war die erste Übung noch zu schwer für mich. Direkt in einer öffentlichen Toilette mit 2 anderen in einer Urinalreihe? Ja, das könnte zu viel auf einmal gewesen sein. Aber natürlich muss man das ganze realistisch und reflektiert einordnen. Ja, es hat tatsächlich funktioniert. Das macht mich happy. Trotzdem gäbe es natürlich noch einige Situationen, vor denen ich kneifen würde. Zum Beispiel mich einfach so neben jemanden an das Urinal zu stellen. Oder wenn hinter  mir mehrere darauf warten, nach mir ans Urinal pinkeln zu können. Diese im wahrsten Wortsinn „Druckmomente“ wären noch zu krass. Aber es war ja auch das erste Mal Üben. Das positive Feeling überwiegt heute klar!

Jetzt heißt es dranbleiben. Und folgende Prämissen beherzigen:

  • weiter üben!!
  • mir meinen Gedanken weiterhin bewusst sein und sie immer wieder hinterfragen
  • nicht immer in Worst-Case Szenarien zu denken.
  • Quasi damit cool zu sein, dass es „noch“ so ist, dass ich Paruretiker bin. Aber eben daran arbeite, es nicht mehr zu sein (oder vielleicht so zu leben, dass ich sagen kann: "Hey eigentlich klappt’s fast immer und wenn dann doch mal nicht: Wat soll‘s? Ist menschlich!")

Es bleibt also spannend. Und entgegen einer packenden Serie, können wir den Plot im Grunde nach unseren Vorstellungen laufen lassen.

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